Auf den Spuren von Anubis

Abb. 1 Anubis auf einer tragbaren Kiste sitzend. Replik, Grab von Tutankhamun. (Foto Corina Zuiderduin)

Wie finden Sie sich in wechselhaften und manchmal verwirrenden Zeiten zurecht? Die alten Ägypter hatten diesbezüglich schon Vorstellungen, denn egal, ob wir heute oder vor ein paar tausend Jahren leben, turbulente Zeiten hat es immer gegeben. Manchmal im Großen, in der Welt, und manchmal im Kleinen, in Ihrem eigenen Leben.

Die alten Ägypter hatten nur ein Ziel vor Augen: ein Osiris zu werden. Alle Mythen und Götterfiguren stellen diesen Vorgang dar. In all diesen Darstellungen erscheinen oft göttliche Figuren als Helfer, denn auf dem Weg zu Osiris könnte man etwas Hilfe gebrauchen. Einer dieser Helfer ist Anubis.

Schnüffeln

Anubis wird oft als schakal ähnlicher Hund oder als Mensch mit Hundekopf dargestellt. Anubis hat in den Mythen Ägyptens mehrere Funktionen. Anubis kann, wie viele andere göttliche Figuren, Eigenschaften des Menschen darstellen. Wenn wir die spezifischen Merkmale eines Hundes betrachten, erhalten wir mehr Einblick in die Bedeutung von Anubis und erfahren, warum die Ägypter ihn als Symbol wählten.

Abb. 2 Eines der schönsten Bilder von Anubis. Die Farben sind wonderschön erhalten geblieben. Bemaltes Holz, gips. Pelizaeus Museum Hildesheim. (Foto Corina Zuiderduin)

Ein Hund ist wachsam. Er erkennt, wer ihm bekannt und wer ihm fremd ist. Als treuer Vierbeiner begleitet er Sie auf Ihrer Reise. Darüber hinaus verfügt ein Hund über einen guten Geruchssinn. Das Tier kann einen Geruch sehr genau vom anderen unterscheiden. Und ein Hund kann einer Spur einwandfrei folgen und so seinen Weg finden, was ihn zu einem hervorragenden Reiseführer macht.

Und genau das tut Anubis in mythologischen Darstellungen. Wenn Anubis auf einem Sarg dargestellt wird, sitzt er stolz aufrecht, mit gespitzten Ohren, wachsam und bereit, Alarm zu schlagen. Anubis bewacht den Körper des Toten. Alten Texten zufolge hütet Anubis auch die Geheimnisse des Sonnengottes. Und Anubis bewacht das Tor zum Himmel. Einer der Orte, an denen Anubis im Totenbuch gefunden wird, befindet sich an der Grenze zwischen Du’at – der unteren unsichtbaren Welt – und dem Himmel. Wenn jemand das Reich der Götter betreten möchte, riecht Anubis, ob er rein ist. Er „riecht, als wäre er einer von ihnen“, einer der Götter, und darf in ihre Sphäre eintreten. Hierzu muss der Ägypter bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ist jemand liebevoll, großzügig, ehrlich, aufrichtig, gerecht und hilfsbereit? Stellt er nicht seine eigenen Interessen über die der anderen, sondern handelt er stets zum Wohle aller? Dann ist er göttlich geworden und kann den Himmel betreten.

Intuition

Ein weiterer Ort, an dem Anubis gefunden wird, ist die Waage, auf der das Herz des Ägypters gewogen wird (Bild 3). Diese Szene stellt den Beginn des Sterbeprozesses dar, in dem der Mensch Bilanz seines Lebens zieht. Anubis steht Thoth bei diesem Vorgang zur Seite und überprüft die Lotlinie der Waage. Er geht dabei sehr gewissenhaft vor. Ist die Waage richtig eingestellt? Anubis repräsentiert hier die Intuition, die unmittelbare Wahrnehmung der Wahrheit von Maät. Gleichzeitig steht Anubis auch für die Fähigkeit zur Unterscheidung. Man spürt ganz deutlich, ob etwas rein war oder nicht und ob es gut war, etwas zu tun oder nicht.

Der Mensch betrachtet alles, was er in seinem vergangenen Leben getan und erlebt hat, im Licht von Maät. Maät ist das Gesetz des Universums. Nach Ansicht der Ägypter sind die Natur und alle ihre Geschöpfe so aufgebaut, dass sich alle Geschöpfe gegenseitig in einem harmonischen Gleichgewicht unterstützen. Es handelt sich dabei nicht um ein statisches Gleichgewicht, nicht um ein stationäres System, sondern es besteht aus Bewegung und Wachstum. Alle Lebewesen der Natur sind so eng miteinander verbunden, dass sie sich gegenseitig helfen. Aufgrund dieser Verbundenheit wirkt sich das Handeln des einen immer auch auf das Handeln des anderen aus. Die Ägypter nannten dieses Naturkonstrukt Maät. Maät steht für Harmonie, Gerechtigkeit und Wahrheit.

Zu Beginn des Sterbeprozesses beschäftigt sich der Mensch nicht nur damit, ob alles, was er getan hat, gerecht, ehrlich und liebevoll war, sondern auch mit den Ursachen und Folgen seines Handelns. Er untersucht, wie seine Entscheidungen mit seinen Gedanken zusammenhängen. Er sieht die aufeinanderfolgenden Ereignisse, die sich daraus ergeben haben. So sieht er, wie sein Schicksal aufgebaut war. Renenutet, die Göttin des Schicksals, ist oft an der Waage zu finden.

Abb. 3 Das Herz des Ägypter wird gegen die Feder von Maät aufgewogen. Anubis stellt die Waage ein. Eine der Göttinnen auf der Linken Seite ist Renenutet, auf der rechten ist Thoth. Zeichnung nach dem Totenbuch von Ani (Illustration Corina Zuiderduin)

Gute Hilfe

Dieser Beurteilungsprozess findet innerhalb der Person selbst statt. Der Mensch wiegt sein eigenes Herz. Er betrachtet nicht alles mit seinem Alltagsbewusstsein, sondern wägt es mit einem höheren Teil seines Bewusstseins ab. Dadurch kann er die Zusammenhänge klarer erkennen. Im Totenbuch geht es um den Rückblick auf das vergangene Leben, wir können diesen Prozess aber auch im Kleinen während unseres Lebens erkennen, wenn wir eine wichtige Aufgabe erledigt haben und über die Ergebnisse nachdenken. Der Mensch kann dann sehen, wie eine Aktion zur nächsten Aktion führte, die wiederum auch eine Reaktion hervorrief.

Wenn man die Abfolge aufeinanderfolgender Ereignisse und die ihnen zugrunde liegenden Gedanken und Überzeugungen erkennt, erweitert sich das Erkenntnis. Dadurch hat der Mensch die Möglichkeit, es beim nächsten Mal anders oder sogar besser zu machen.

Auch wir erkennen die Waage, bevor wir eine wichtige Entscheidung treffen und wiegen etwas in unserem Herzen ab. Anubis als Intuition und Urteilsvermögen ist dann eine gute Hilfe.

Abb. 4 Anubis führt Hunefer zur Waage und zu Osiris. Ausschnitt von der Totenbuch von Hunefer. Britisches Museum London. (Foto Corina Zuiderduin)

Die Straße räumen

Anubis ist ein guter Rieseführer auf dem Weg zu Osiris. Auf mehreren Bildern nimmt er den Ägypter bei der Hand und führt ihn zu Osiris. Anubis ähnelt stark einem anderen Gott, Wepwawet. Wepwawet sieht auch wie ein Hund aus (Bild 5). Wepwawet könnte ein anderer Name für Anubis sein oder eine bestimmte Funktion von Anubis darstellen.

Wepwawet wurde bei rituellen Prozessionen auf einer Standarte vor dem König (Pharao) hergetragen. Prozessionen haben eine symbolische Bedeutung. Wepwawet scheint somit die Rolle eines Führers zu spielen, eines Wegweisers für die Wege oder Entscheidungen, die der König in seinem Leben trifft. Eigentlich lässt der Name Wepwawet bereits auf seine Bedeutung schließen. Wepwawet bedeutet „Öffner der Wege“. Wep bedeutet „öffnen“ oder „trennen“. Wer seine Intuition und sein Urteilsvermögen nutzt, öffnet in seinem Inneren den Weg zu Osiris. Wepwawet macht den Weg frei und wer ihm folgt, wählt immer den richtigen Weg.

Am Berg

Ein anderer Titel für Anubis und Wepwawet ist „der auf seinem Berg ist“. Dies ist möglicherweise wörtlich gemeint, da sich Hunde und Schakale gerne in den Bergregionen der Wüste und deren Umgebung aufhalten, aber es hat wahrscheinlich auch eine symbolische Bedeutung. In vielen Kulturen bedeutet das Sitzen auf einem Berg in der mythischen Sprache, dass man sich auf einer hohen Bewusstseinsebene befindet. In vielen Mythen wohnen beispielsweise die Götter auf einem Berg. Von seinem Berg aus überblickt Wepwawet das Ganze und die Details. Von seiner hohen Position aus sieht er keine Hindernisse, er überblickt sie und führt den Menschen so Schritt für Schritt zum Ziel. Wepwawet führt den Menschen „auf den richtigen Weg“, wie viele Sprichwörter besagen. Wepwawet wird manchmal mit Horus und dem Sonnengott gleichgesetzt, ein weiterer Hinweis darauf, dass Wepwawet einen höheren Aspekt des Menschen darstellt.

Thoth

Anubis ist eng mit Thoth, dem Gott der Weisheit, verbunden. Thoth repräsentiert wie Anubis und Wepwawet einen Aspekt im Inneren des Menschen. Weisheit kann tief in jedem Menschen gefunden werden. Und Thoth wird auch „Öffner der Wege“ genannt. Er macht das Paradies denen zugänglich, die Maät folgen.

Wenn man im Einklang mit allen Wesen handelt, öffnen sich einem die Wege. Dann gibt es keine Blockaden mehr zwischen ihm und seinem inneren Gott. Er ist frei von allem, was ihn daran hindert, sein Bewusstsein zu erweitern und ist daher in der Lage, Erkenntnisse und Inspiration zu empfangen.

Abb. 5 Wepwawet wird normalerweise stolz auf einer Standarte stehend dahrgestellt.Er wird oft von Kobras begeleitet. Bronze, Louvre, Paris. (Foto Corina Zuiderduin)
Abb. 6 Thoth mit Wepwawet Fusen. Faience, Staatliche Sammlung Ägyptischer Kunst München. (Foto Corina Zuiderduin)

Auf Anubisfüße

Es gibt eine innere Quelle, aus der jeder schöpfen kann. Einem alten ägyptischen Text zufolge können Sie sich auf Thoth, Ihre innere Weisheit, konzentrieren, indem Sie still werden und sich nicht von turbulenten Emotionen und negativen Gedanken ablenken lassen.

Je mehr ein Mensch darüber nachdenkt, wie alles und jeder miteinander verbunden ist, desto besser kann er gute Entscheidungen treffen. So sagt der ägyptische Intef, er sei jemand, „der in seinem Herzen über Maät nachdenkt.“ Er ist „ruhig, freundlich und nicht aufbrausend oder reizbar“. Er ist „präzise wie die Waage“. Er ist „aufrichtig und voller Maät wie Thoth“. Dies ermöglicht es ihm, auch in schwierigen Situationen immer das Richtige zu sagen.

Der Mensch kann seine Erkenntnisse kontinuierlich erweitern. Intef sagt, er sei „ein Wissender, der sich sein Wissen selbst beigebracht hat.“ Erkenntnisse entspringen den eigenen Tiefen. Intef nutzt sein gesammeltes Wissen und teilt es auch mit anderen, wenn es ihnen von Nutzen ist, sagt er.

Thoth steht für intuitive Weisheit. Erkenntnisse kommen oft blitzartig, als ob Thoth sie blitzschnell aus den göttlichen Reichen überbringt. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum er oft mit Anubis-Schuhe dargestellt wird (Bild 6). Thoth führt den Menschen mit schnellen Schritten vorwärts.

Geheimer Name

Es gibt eine andere Art von Statue, die Anubis-Schuhe trägt. Es wurden Bilder mysteriöser Gestalten gefunden, halb Frau, halb Kobra. Abbildung 7 zeigt eine solche Figur. Diese faszinierende Holzskulptur stellt wahrscheinlich Renenutet dar. Renenutet sind wir bereits an der Waage begegnet. Renenutet stellt nicht nur das Schicksal dar, sondern auch den individuellen Charakter des Menschen. Das Schicksal des Menschen und sein Charakter sind nach Ansicht der Ägypter eng miteinander verbunden.

Renenutet gab jedem Kind bei der Geburt einen geheimen Namen. Neben einem gemeinsamen Namen, unter dem jeder jeden kannte, hatte jeder Ägypter auch einen Geheimnamen. Niemand kannte diesen Namen, nicht einmal der Vater und die Mutter eines Kindes. Der geheime Name ist ein Hinweis auf den besonderen Charakter der Person. Das Wort „Renenutet“ gibt mehr Klarheit über seine Bedeutung. Renenutet leitet sich von den Wörtern Ren – der Name und renen – erziehen ab. Renenutet bezieht sich auf die Erziehung des Namens, des Charakters. Renenutet bezieht sich auf Selbstentwicklung. Den Ägyptern zufolge ist das Charakter nicht statisch. Das Charakter eines Menschen kann sich entwickeln. Wenn ,an seinen Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten – kurz gesagt, das Charakter – ändert, ändern sich auch die Entscheidungen und der Weg, den man geht. Der Mensch reagiert anders, was wiederum dazu führt, dass die Umgebung anders reagiert. Die Interessen und die Beziehungen ändern sich. Man begegnet andere Menschen. Das Schicksal, das der Mensch von diesem Moment an gestaltet, ändert sich.

Je liebevoller jemand wird, desto mehr ähnelt sein Charakter Osiris. Es ist Renenutet, die „den Ägypter in den Himmel erhebt“, heißt es im Totenbuch. Es ist der schöne Charakter, der den Weg zum Glück findet.

Abb. 7 Kobra-göttin mit Anubisfusen. Holz, Ägyptisches Museum Kairo. (Foto Corina Zuiderduin)
Abb. 8 Osiris, der inneren Gott, mit seine besondere Krone mit den Federn von Maät auf beiden Seiten. Rijksmuseum van Oudheden Leiden. (Foto Corina Zuiderduin)

Spur zur Sonne

Bei jedem Menschen findet eine innere Entwicklung statt. Dieser Weg ist für jeden anders. Die Natur besteht aus Millionen und Abermillionen von Lebewesen. Und alle diese Millionen Lebewesen sind einzigartig. Es gibt keine genau gleichen Kreaturen. Daher folgt jeder Mensch seinem eigenen, einzigartigen Weg zu Osiris. Seine Intuition hilft ihm dabei. Es sagt ihm nicht nur, welchen Weg er einschlagen und welche Entscheidungen die besten sind, sondern auch, wem er vertrauen und vor wem er sich in Acht nehmen sollte, wer ehrlich ist und wer nicht. Dies erspart ihm viel unnötigen Ärger und Kummer. Intef sagt beispielsweise, dass er Schmeicheleien erkennen könne. Er kann Unaufrichtigkeit von Echtheit unterscheiden.

Die Intuition des Menschen führt ihn auch dorthin, wo er Inspiration finden kann, um diesen Weg des Wachstums einzuschlagen. Ihm begegnen Bücher und Menschen, von denen er viel lernen kann.

Aus jeder Erfahrung kann man etwas lernen. Je weiter man wächst, desto mehr bringt man seine innere, reine, göttliche Natur zum Ausdruck. Die Krone des Osiris hat auf beiden Seiten zwei Straußenfedern. Sie sind die Federn von Maät. Es weist darauf hin, dass der Mensch in seinem tiefsten Innern die harmonischen Gesetze des Universums in sich trägt. Sein inneres Wesen ist Harmonie, ist Gerechtigkeit, ist Wahrheit, ist gegenseitige Zusammenarbeit, ist Maät.

Jeder Mensch und jedes Lebewesen folgt seinem eigenen Weg. Es steht ihm frei, seinen Weg zu wählen. Ein weiser und liebevoller Mensch verbindet sich auf natürliche und freiwillige Weise mit dem Gesetz des Universums, mit Maät. Er weiß, dass jeder Mensch und jedes Wesen im Innersten eins ist. Er erlebt diese Bindung nicht als Einschränkung, sondern als Glück. Und was auch immer das Schicksal bringen mag: Wer sich von seiner intuitiven Weisheit leiten lässt, erlebt das Leben als großes Abenteuer voller Inspiration.

Dieser Artikel erschien im Bresmagazine 349 Dezember 2024/Januar 2025

Copyright Text und Fotos: Corina Zuiderduin.